Interview mit Bruna Campos

Mittendrin statt nur dabei

Wie wir in Brüssel EU-politische Veränderungen anstoßen

Einblick ins Europäische Parlament

Im Europaparlament in Brüssel stimmen Politikerinnen und Abgeordnete über die künftige Energiepolitik des Kontinents ab.

© Mira Bell

Das ist „klima- und artenpolitischer Wahnsinn”, so kommentierte der EU-Abgeordnete Martin Häusling Anfang April gegenüber ZEIT online, dass EU-Mitgliedsländer die Holzverbrennung in Kraftwerken für die Erzeugung von angeblich grünem Strom im großem Stil subventionieren. In Deutschland sind das jährlich mehr als 1,5 Milliarden Euro. Höchste Zeit für einen Kurswechsel! sagt EuroNatur. In den Jahren 2022/2023 wird eine neue Fassung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (Renewable Energy Directive, RED) erwartet. Jetzt gilt es mitzugestalten, wie die Energieversorgung in der Europäischen Union künftig aussehen kann und wird.

"Wir müssen unser Energiesystem dezentral gestalten!" - Wie die Kehrtwende gelingen kann

Nilgans auf Zaun in Brüssel

Ob diese Nilgans vor dem EU-Parlament ahnt, worüber drinnen debattiert wird?

© Mira Bell

EuroNatur verteidigt die Gemeinwohlinteressen der Zivilgesellschaft und der Natur in Brüssel und drängt auf ein Energiesystem, das mit der Natur arbeitet und nicht gegen sie. Im Interview skizziert Bruna Campos, Senior Policy Manager bei EuroNatur, worauf es dabei ankommt.

Bruna, die EU-Richtlinie für Erneuerbare Energien (RED) wird derzeit überarbeitet. Warum ist es so wichtig, dass sich die Zivilgesellschaft einmischt?

Der Entwurf, den die EU-Kommission vorgelegt hat, ist schwach und in vielerlei Hinsicht nicht ehrgeizig genug. Er garantiert nicht, dass die Nutzung Erneuerbarer Energien in Zukunft keine negativen Auswirkungen auf die Natur haben wird. Derzeit sind zwei Formen von Erneuerbaren hoch im Kurs, die für die Natur sehr schädlich sind: Wasserkraft und Biomasse. Dabei sollte die Erneuerbare-Energien-Richtlinie eigentlich mit den Zielen des Green Deal in Einklang gebracht werden. Das heißt, es braucht Lösungen, die den ökologischen Notstand gesamthaft angehen. Wir brauchen eine klare Richtung! Wir müssen von naturzerstörerischen Formen der Energieproduktion wegkommen und wir müssen unser Energiesystem dezentralisieren. Der Krieg in der Ukraine zeigt dies einmal mehr.

Die Bestrebungen der Politikerinnen und Politiker, Europa so schnell wie möglich von russischem Gas und Öl unabhängig zu machen sind groß. Wächst dadurch auch der Druck auf die Natur?

Ja, so ist es. Lebensmittel anzubauen, um sie dann als Biokraftstoffe zu verbrennen? Solche Ideen stehen für Kurzsichtigkeit und Ignoranz. Damit lösen wir das Problem nicht, sondern verursachen eine neue Krise. Viele Politiker sehen nicht, dass es eine langfristige Vision braucht.

Infografik nachhaltiges Energiesystem

EuroNatur spricht sich nachdrücklich für einen Systemwechsel hin zu einer dezentralen Energieproduktion aus. Was bedeutet das denn?

In einem dezentralen Energiesystem erzeugen Dörfer, Gemeinden oder Städte ihre eigene Energie. Die Menschen helfen sich gegenseitig. Zum Beispiel produziert ein Dorf Solarenergie. Wenn eine Person oder Familie mehr erzeugt hat als sie verbraucht, dann wird dieser Überschuss ins Energienetz eingespeist. So ist die Energie für die direkten Nachbarn oder für das Nachbardorf verfügbar. Umgekehrt, wenn jemand mehr verbraucht als er oder sie produziert hat, kann er die am nächsten gelegene Energiequelle nutzen. So geht so wenig Energie wie möglich auf dem Weg zu den Verbrauchern verloren. Derzeit betragen die Übertragungsverluste 30 bis 40 Prozent. Das ist viel zu viel!

Denkst du, dieser grundlegende Umbau des Energiesystems ist noch rechtzeitig möglich, schließlich sind der Klima- und Biodiversitätsnotstand längst Realität?

Es gibt bereits Tausende Energiegemeinden in Europa, aber noch kocht jeder sein eigenes Süppchen. Außerdem muss für jedes Gebiet die passende Form der Stromerzeugung gefunden und das jeweilige Potenzial bestimmt werden. Dabei gilt es zu berücksichtigen, wie empfindlich Arten oder Lebensräume auf die verschiedenen Formen der Energienutzung reagieren würden. Eine sorgsame Planung ist für den Naturschutz das A und O. Das wird bislang viel zu wenig bedacht. Vor allem braucht es Investitionen in die Analyse vorhandener Daten. Wo es schon Daten gibt, dürfte die Kartierung weniger als ein Jahr dauern. Aber zuallererst braucht es die Unterstützung der Regierungen! Wir wollen zuallererst in der EU-Kommission Verständnis dafür schaffen, dass sie die Richtung vorgeben müssen und dass die Natur Teil der Gleichung sein muss. Bisher schlägt die RED den Mitgliedsstaaten das Modell der Energiegemeinden nur vor, aber die Umsetzung ist nicht zwingend. Außerdem muss sichergestellt werden, dass die Mitgliedsstaaten bei der Planung der Energieinfrastruktur die Umweltgesetze berücksichtigen. All das fehlt in der jetzigen RED und auch im Entwurf für die Überarbeitung, deshalb haben wir die Kampagne RED4nature gestartet.

  • Die Kampagne RED4Nature

    Im Jahr 2022 finden mehrere Abstimmungen über die Erneuerbare-Energien-Richtlinie statt. Wir plädieren für eine Kehrtwende und für einen nachhaltigen Weg. Dieser sollte von Atomenergie und fossilen Energieträgern wegführen, gleichzeitig aber auch Alternativen zur Nutzung von Holzbiomasse und zum weiteren Ausbau der Wasserkraft aufzeigen. Um uns mit dieser Vision in Brüssel Gehör zu verschaffen, haben wir die umweltpolitische Kampagne RED4Nature (RED steht für Renewable Energy Directive) gestartet. Im vergangenen Herbst hat EuroNatur mit Mitgliedern des Europaparlaments 15 Lobbygespräche innerhalb von nur einer Woche geführt. Im April und Mai 2022 fanden erneut Gesprächsmarathons statt.

Installation vor dem EU-Parlament

Ein passendes Motto...

© Mira Bell

Du triffst Mitglieder des Europäischen Parlaments in Brüssel und sagst ihnen, dass es nicht „grün“ ist, Wälder und Flüsse für die Energieproduktion zu zerstören. Wie offen zeigen sich die Politikerinnen und Politiker für alternative Ansätze?

Wir sprechen regelmäßig mit den MEPs. Im Rahmen der Kampagne RED4Nature haben wir Interviews vor laufender Kamera geführt. Wir wollen, dass die Abgeordneten öffentlich ihre Meinung sagen. Leider zögern viele, eindeutig auf unsere Fragen nach ihrer Meinung zur Abholzung von Wäldern und der Zerstörung von Flüssen zu antworten. Politikerinnen und Politiker bemühen sich bisher kaum ernsthaft, Konflikte zwischen dem Ausbau Erneuerbarer Energien und dem Naturschutz zu lösen.

Aber wir stellen fest, dass sie uns mehr und mehr zuhören und auch aus den Gesprächen lernen. Wenn wir über Dezentralisierung sprechen, fällt es ihnen manchmal schwer, sich darunter etwas vorzustellen. Deshalb werden wir nun Steckbriefe von Energiekommunen erstellen, die als Vorzeigebeispiele dienen. In Albanien beispielsweise haben wir die Gemeinde Kute am Fluss Vjosa erfolgreich dabei unterstützt, zu einer Energiegemeinde zu werden, die sich hauptsächlich über Sonnenenergie versorgt.

EuroNatur ist eine eher kleine Organisation. Wie realistisch ist es für uns, ein Umdenken auf EU-Ebene zu erreichen?

Wir schließen uns mit vielen anderen Nichtregierungsorganisationen zusammen, und bringen für die Zivilgesellschaft wichtige Aspekte in die Diskussion ein. Wer die Natur schützt, handelt zum Wohl aller. Es ist frustrierend, dass heute - insbesondere bei Politikern und Entscheidungsträgerinnen - nur der wirtschaftliche Nutzen zählt. Am Ende wird sich die Investition in den Naturschutz aber auch wirtschaftlich lohnen; vor allem, wenn wir verhindern, dass unser System zusammenbricht. Es kann teuer werden, zerstörte Systeme wiederherzustellen. Wir als Zivilgesellschaft sollten an unsere Wirksamkeit glauben und der Natur in den politischen Entscheidungsprozessen eine Stimme geben.

„Energieminister, Mitglieder des EU-Parlaments und die EU-Kommission müssen an einen Systemwechsel glauben, sonst wird er nicht stattfinden."

Bruna Campos Bruna Campos, Senior Policy Manager bei EuroNatur
Vergleich zwischen dem Energieangebot 2019 und den Energiequellen 2040
Vogelschlagopfer durch Windturbinen

Windenergie ist eigentlich eine saubere Form der Energiegewinnung. Wichtig ist jedoch die Standortwahl: Hotspots der Zugvogelrouten müssen Tabu sein!

© Mihail Iliev

Wir sprechen uns gegen Atomenergie aus, wir sind gegen fossile Energieträger, aber auch Holzbiomasse oder Wasserkraft sind aus unserer Sicht keine Alternativen. Bleibt denn etwas übrig?

Ja, durchaus. Wir sehen großes Potential in der Produktion von Solar- und Windenergie sowie in der Nutzung von Geothermie (siehe Grafik). Viele Menschen denken bei Erdwärme an Island. Dann sagen sie: Aber wir leben doch nicht auf einer Vulkaninsel. Dabei ist das gar nicht nötig! Es lässt sich auch oberflächennahe Geothermie nutzen. Damit erzeugt niemand riesige Mengen an Energie, aber es reicht, um zum Beispiel das Haus zu heizen. Besonders für ländliche Gegenden bieten Geothermie und Wärmepumpen unserer Meinung nach ein hohes Potenzial. Wir denken, dass die Energieproduktion aus geothermischen Quellen mindestens 14 Prozent der gesamten erneuerbaren Energieerzeugung in der EU ausmachen kann.

Allerdings ist auch hier Vorsicht geboten. Die Auswirkungen auf die Natur, insbesondere auf die Böden, sind noch nicht ausreichend bekannt. Es sollte mehr geforscht werden, um sicherzustellen, dass eine Steigerung der Energieerzeugung nur minimale Auswirkungen auf die Natur hat.

Und wie sieht das mit der Windenergie aus? Der Schutz von Zugvögeln war von Anfang an ein Kernanliegen von EuroNatur. Was ist mit den Bildern von kollidierten Vögeln, die sofort vor dem inneren Auge auftauchen?

Windenergie ist eine gute Wahl, wenn sie am richtigen Ort genutzt wird. Die Kartierung geschützter Vogelarten ist dabei unabdingbar. Es liegt auf der Hand, dass es zum Beispiel keine gute Idee ist, Windparks auf den Flugrouten von Zugvögeln zu errichten. Und wir müssen zusätzliche Belastungen vermeiden! Die größte Belastung für Seevögel ist zum Beispiel der Beifang in der Fischerei. Wird dieses Problem ausgeschaltet, könnten Seevogel-Populationen eine gewisse Sterblichkeit durch Windkraftanlagen verkraften.

Du meinst, wir müssen Prioritäten setzen, womit wir Schaden anrichten?

Ich meine, dass wir nicht alles machen können, denn es gibt eine ökologische Belastungsgrenze. Menschen neigen dazu, alles gleichzeitig zu wollen – ich will mein Licht ständig anhaben, ich will alles essen, was mir schmeckt, ich will jederzeit überall hinreisen können etc.. Wir haben vergessen, dass wir damit unsere Ressourcen ausbeuten und, dass wir unseren Planeten nicht so behandeln können, zumindest nicht ohne Folgen. Die Regierungen müssen sicherstellen, dass auf der Grundlage wissenschaftlicher Gutachten und unter Beteiligung der Öffentlichkeit entschieden wird, was wirklich wichtig ist.

Wie können wir uns vor diesem Hintergrund auf einen Winter 2022 ohne Öl- und Gaslieferungen aus Russland vorbereiten?

Wir können unseren Energieverbrauch senken und die Regierungen können dies regeln. Sie können dazu beitragen, unseren Kraftstoffverbrauch zu senken, indem sie zum Beispiel in allen Städten autofreie Zonen einrichten, autofreie Sonntage veranstalten, den öffentlichen Nahverkehr ausbauen und Geschwindigkeitsbegrenzungen einführen. In Deutschland gibt es zum Beispiel an einigen Stellen kein Autobahn-Tempolimit. Es ist erwiesen, dass Geschwindigkeitsbegrenzungen den Kraftstoffverbrauch von Autos senken. Die Regierung sollte auch darauf hinwirken, dass auf allen Gebäuden Solaranlagen angebracht werden, die noch keine haben und dass diese an das Stromnetz angeschlossen werden. Jeder kann auch einen Teil beitragen, indem er oder sie den Thermostat um ein Grad herunterdreht, was wiederum den Energieverbrauch senkt.

Wie bewahrst du die Hoffnung?

Wir haben keine andere Möglichkeit! Manchmal höre ich mich selbst Dinge wieder und wieder sagen, aber wir haben schon einen langen Weg hinter uns. Als ich vor 12 Jahren begann, Politikerinnen und Politiker auf die Bedeutung der Biodiversität aufmerksam zu machen, musste ich mit den Grundlagen anfangen und erstmal erklären, was Biodiversität und Ökosysteme sind. Heute ist die biologische Vielfalt ein zentrales Thema in politischen Diskussionen geworden.

Text, Interview und Übersetzung: Katharina Grund

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