Der Seggenrohrsänger ist der seltenste Singvogel Europas. Im Rahmen eines internationalen EU-LIFE-Projekts setzen wir mit zahlreichen Partnern alles daran, die Art vor dem Aussterben zu bewahren.
Abendstimmung im ukrainischen Sumpf: Zu dieser Tageszeit stehen die Chancen, einen Seggenrohrsänger zu hören und vielleicht sogar zu Gesicht zu bekommen, am höchsten.
Der Abend ist bereits weit fortgeschritten, doch die Temperaturen sind nach einem heißen Tag noch immer schweißtreibend. Unter den Gummistiefeln schmatzt es bei jedem Schritt; das Vorankommen im ukrainischen Sumpf ist anstrengend. Schließlich ist da noch die Müdigkeit, denn die Abende draußen im Feld sind sehr lang.
Trotz aller Erschöpfung ist EuroNatur-Projektleiterin Dr. Justine Vansynghel glücklich. Sie hat soeben einen „Lifer“ gesehen. So nennt man in Vogelgucker-Kreisen eine Art, die man zum ersten Mal im Leben beobachten konnte. Und Justines „Lifer“ ist eine ganz besondere Spezies: der Seggenrohrsänger, Europas seltenster Singvogel.
Offene nasse Flächen mit fußhohen Seggen und Schneidried: Wo gibt es das heute in Europa noch in beträchtlicher Größe? Lebensraumzerstörung ist der Hauptgrund für den Einbruch der Bestände des Seggenrohrsängers (Acrocephalus paludicola) in den zurückliegenden Jahrzehnten. Der apart gestreifte Singvogel ist wie alle Rohrsängerarten schwierig zu beobachten. Am ehesten macht er durch seinen Gesang in den Abendstunden auf sich aufmerksam. Der Seggenrohrsänger lebt heute nur noch in wenigen Gebieten Osteuropas, vor allem in Litauen, Polen, Belarus und der Ukraine. Das letzte deutsche Brutvorkommen an der Oder ist 2014 erloschen. Um den einstigen „Spatz der Niedermoore“ zu unterstützen, wurde ein internationales LIFE-Projekt in die Wege geleitet, in dem EuroNatur eine wichtige Funktion einnimmt. Einen der geographischen Schwerpunkte des ambitionierten Artenschutzprojekts bildet der Nordwesten der Ukraine.
Auf der Suche nach dem seltenen Vogel
Ein internationales Team aus versierten Ornithologinnen und Vogelkundlern sucht die Nadel im Heuhaufen - oder besser gesagt: den Seggenrohrsänger im Sumpf
Dr. Justine Vansynghel ist mit zahlreichen ukrainischen Ornithologinnen und Freiwilligen aus ganz Europa im Prypiat-Stokhid Nationalpark unterwegs. In sechs Teams mit jeweils zwei Leuten laufen sie Transekte im Nationalpark ab. Unter einem Transekt versteht man eine festgelegte Untersuchungsstrecke mit mehreren Mess-, beziehungsweise Beobachtungspunkten.
In Abständen von ungefähr hundert Metern stoppen die Teammitglieder und lauschen. Justine und ihr Begleiter, Kevin Guille aus Frankreich, horchen zunächst vergebens. Sie hören und sehen zwar etliche andere Vogelarten wie Sumpfohreulen, Karmingimpel, Rohrschwirle und Schilfrohrsänger, die dem Seggenrohrsänger ähneln; doch ausgerechnet Acrocephalus paludicola präsentiert sich nicht.
Als die Abenddämmerung schon weit fortgeschritten ist, rechnen Justine und Kevin kaum noch mit einer Sichtung. Die Beiden sind bereits fast am Ende ihres Transekts angekommen, als sie auf einmal ein knarrendes „trrrrr“ vernehmen, dem sich unmittelbar danach eine Reihe Pfeiftöne anschließen. „Der Gesang klang ein bisschen wie ein schläfriger Schilfrohrsänger“, erinnert sich Dr. Justine Vansynghel. „Kevin und ich waren wirklich überrascht, denn das Habitat war eigentlich gar nicht ideal, es gab viele verbrannte Büsche. Doch aus einem sang der Seggenrohrsänger heraus, Kevin war sich als ausgewiesener Experte sofort sicher. Und dann hat sich das singende Männchen sogar noch gezeigt. Ein toller Moment, einen der seltensten Vögel Europas zum ersten Mal in meinem Leben zu sehen“, schwärmt Justine.
Seggi singt
Lauschen Sie dem schnarrenden Gesang des seltensten Singvogels Europas, aufgenommen am Abend des 4. Juni 2025 im Prypiat-Stokhid Nationalpark (Lautsprecher aufdrehen!)
Internationales Artenschutzprojekt
Seggenrohrsänger singen bevorzugt in der Abenddämmerung und da diese im Frühling und Frühsommer erst spät einsetzt, sind die Abende draußen im Feld ziemlich lang. Die wenigen hauptamtlichen Mitarbeitenden in der Ukraine werden neben Justine von zahlreichen Freiwilligen aus dem In- und Ausland unterstützt. Diese Unterstützung ist enorm wichtig, denn unsere ukrainischen Partner sind mit ihren Kapazitäten am Limit.
Es war inspirierend zu erleben, wie engagiert sich die Freiwilligen für den Schutz dieses europäischen Naturerbes und seiner bedrohten Arten einsetzen. Mit der Unterstützung aus dem europäischen Ausland wollten wir zeigen, dass der Naturschutz auch in Zeiten des Krieges nicht zu kurz kommen darf.
Dr. Justine Vansynghel, Projektleiterin Zugvogelschutz
So international wie es bei den Ornithologinnen und Vogelkennern zugeht, ist das gesamte LIFE-Projekt angelegt. Gemeinsam mit sieben Partnern aus fünf Ländern haben wir im Oktober 2024 das auf neun Jahre angelegte Projekt „LIFE4AquaticWarbler“ zum Schutz des Seggenrohrsängers gestartet. Ziel des anteilig von der EU geförderten Projekts ist es, den rückläufigen Trend der Teilpopulationen in Polen, Litauen und der Ukraine zu stoppen sowie die ausgestorbenen Populationen in Deutschland und Ungarn wiederaufzubauen. Insgesamt soll das Brutgebiet des Seggenrohrsängers auf einer Fläche von knapp 4.000 Hektar wiederhergestellt werden.
Translokation für den Arterhalt
Das sind ehrgeizige Ziele, für die es erst einmal wichtig ist zu wissen, wo genau es überhaupt noch Brutvorkommen der gesuchten Art gibt und wie groß diese sind; genau deshalb auch das Monitoring im Prypiat-Stokhid Nationalpark. Das Großschutzgebiet im äußersten Nordwesten der Ukraine bildet gemeinsam mit den Vorkommen auf belarussischer Seite eines der letzten großflächigen Brutareale des Seggenrohrsängers. Von hier aus sollen die seltenen Vögel mit Hilfe unserer Partner in aufgegebene Brutgebiete zurückkehren.
In Litauen wurden solche Translokationen in vergangenen Jahren bereits erfolgreich umgesetzt. Dafür sammelten die baltischen Vogelschützer Nester mit geschlüpften Rohrsängerküken ein, die ohnehin durch Mäharbeiten gefährdet waren und zogen diese in Aufzuchtstationen groß. Nachdem sie die Nestlingsphase überstanden hatten, kamen die Jungvögel in Volieren inmitten der neu zu besiedelnden Gebiete. Dort konnten sie sich langsam an ihre neue Umgebung gewöhnen, ehe sie nach einigen Tagen vollends in die Freiheit entlassen wurden. Ihr Instinkt führte die Zugvögel am Ende des Sommers nach Westafrika, wo sie die kalte Jahreszeit verbracht haben. Nach ihrer ersten Überwinterung kehrten sie in die Moorgebiete ihres ersten Sommers zurück.
Zunehmende Trockenheit
Der Prypiat-Stokhid Nationalpark wäre eigentlich ein ideales Gebiet für eine stabile Quellpopulation, aus der sich einzelne Nester entnehmen ließen. Doch die Eindrücke, die Dr. Justine Vansynghel von ihrer Reise in die Ukraine mitgebracht hat, waren besorgniserregend. Im Vergleich zum Frühling 2024 konnten in diesem Jahr deutlich weniger Seggenrohrsänger nachgewiesen werden.
Gut möglich, dass dies an der Trockenheit liegt. Während des gesamten Winters und Frühlings hat es dort zu wenig Niederschlag gegeben. Im April 2025 wütete gar ein großes Feuer in den ausgetrockneten Sümpfen, geschätzte 1.000 Hektar Schilf und Moorfläche verbrannten. „Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Feuer um illegale Brandrodung. Das Feuer hat sich dann, angefacht durch die Trockenheit, zu einem Flächenbrand entwickelt“, vermutet Justine. Die Folgen waren noch Anfang Juni sichtbar. „Bis wir auch in der Ukraine mit Translokationen von einigen Seggenrohrsängerküken beginnen können, braucht es vermutlich noch ein bis zwei Jahre. In diesem Zeitraum müssen die Lebensräume aufgewertet werden, damit die Umsiedlung erfolgsversprechend ist“, sagt die Biologin.
Der Eindruck täuscht: Zwar hatte es kurz vor der Exkursion ins Seggenrohrsängerhabitat geregnet, doch insgesamt waren die vorausgegangenen Wochen und Monate viel zu trocken.
Schutzmaßnahmen wie die Wiedervernässung von Moorflächen, deren Entbuschung sowie naturnahe Bewirtschaftung sollen das zukünftige Überleben der Seggenrohrsänger im Prypiat-Stokhid Nationalpark sichern. Sie kommen zudem einer Reihe weiterer Tier- und Pflanzenarten zugute, die in Europa selten geworden sind.
„Die Artenvielfalt war beeindruckend“, resümiert Justine. „Tagsüber konnten wir viele Vögel beobachten, die in Mitteleuropa schon lange ausgestorben oder zumindest extrem selten geworden sind. Als dann nach Einbruch der Dunkelheit das abendliche Konzert der Rohrsänger und Schwirle in das nächtliche Rufen der Wachtelkönige überging, war ich vollends begeistert.“
Vogelvielfalt im Prypiat-Stokhid Nationalpark
Doch nicht nur Tiere und Pflanzen profitieren von den Maßnahmen, auch das Klima schützen wir damit. Werden Seggensümpfe zerstört, gelangen große Mengen des im Torf gespeicherten Kohlenstoffdioxids in die Atmosphäre. Wenn wir und unsere Partner diese Feuchtbiotope aber erneut vernässen, können sie wieder als wahre Wasser- und Kohlendioxidschwämme fungieren.
Mit dem leidenschaftlichen Einsatz von EuroNatur und ihren Partnern nehmen wir uns gleich zwei der großen Krisen unserer Zeit an: des Artensterbens und des Klimanotstands. Gelingt es uns in Osteuropa, Erfolge zu erzielen, ist das ein starkes Signal an den Rest der Welt, das engagierter Arten- und Klimaschutz auch in politisch schwierigen Zeiten möglich ist.