Lass es fließen!

Aoos/Vjosa: Wie Jugendliche und Strafgefangene positive Perspektiven entwickeln

Der Fluss Sarantaporos fließt durch ein weites Tal.

Das Flusssystem des Aoos zu erkunden ist wie auf einen anderen Planeten zu reisen.“ (Georgia Kanellopoulou). Im Bild: der Sarantaporos, einer der wichtigsten Nebenflüsse des Aoos.

© Dimitris Skiadaresis
  • Über „BESTbelt“ und „Let it flow“

    Kleinere Organisationen, etwa aus dem Naturschutz, sind im Vergleich zu größeren benachteiligt – leisten aber häufig mindestens genauso wertvolle Arbeit. Mit dem EU-finanzierten Projekt BESTbelt haben wir die Möglichkeit, lokale Akteure am Grünen Band Europa zu unterstützen. Das Projekt Let it flow wurde von MedINA in Zusammenarbeit mit dem Umweltbildungszentrum der nordwestgriechischen Gemeinde Konitsa durchgeführt. Es zielte darauf ab, Schülerinnen und Schüler aus dem Einzugsgebiet des Aoos zu ermutigen, sich für den Schutz ihrer Flüsse zu engagieren und dazu beizutragen, das grenzübergreifende Flusssystem als ökologisch wertvolle Perle sowie als Ressource für die Entwicklung der Gemeinden zu erhalten. In einem innovativen Rollenspiel versetzten sich Schülerinnen und Schüler in die Perspektiven lokaler Akteure und beschäftigten sich mit realen Herausforderungen wie Wassernutzung, Energiegewinnung, Tourismus und Naturschutz. Aoos (auf der griechischen) und Vjosa (auf der albanischen Seite) sind Teil des Grünen Bandes zwischen Griechenland und Albanien. Erfahren Sie mehr über das Grüne Band Europa, BESTbelt und Let it flow auf der Seite europeangreenbelt.org.

Handbuch zum Rollenspiel "Let it flow!"

Illustration auf Cover des Rollenspiels „Let it flow“

Scharfe Einlasskontrollen, eingesperrte Menschen, viele schon seit Jahren, Neonlicht, muffige Flure und über alldem ein Dunst aus Aggression, Resignation und Frust. Wohlfühlatmosphäre geht anders. Das Männergefängnis auf der Insel Korfu gilt als ein besonders rauer Ort. Georgia Kanellopoulou hatte eine Weile gezögert, bevor sie die Aufgabe als Dozentin für Umweltbildung in der dortigen Second Chance School annahm. Doch schließlich hat der innere Ruf die Zweifel übertönt. „Ich wollte die Menschen im Gefängnis an die Schönheit der Natur erinnern, die es außerhalb der Gefängnismauern gibt. Das ist wichtig für die Seele“, sagt sie. Bereut hat Georgia ihre Entscheidung bis heute nicht – im Gegenteil: „Es war eine wertvolle und einzigartige Erfahrung. Es hat sich so viel Gutes daraus entwickelt, das ich vorher gar nicht planen konnte.“

Ein Jahr lang verbrachte die Umweltingeneurin sieben Stunden die Woche im Gefängnis – als einzige Frau in einer Gruppe aus einem Dutzend Männern, die zum Teil schwere Straftaten begangen haben. Welche das sind weiß Georgia bis heute nicht, unter anderem aus Datenschutzgründen. Es ist für sie auch nicht wichtig. In ihren Unterrichtsstunden befreiten sich die Teilnehmer aus der Rolle der Straftäter. Männer aus den unterschiedlichsten Ländern, die im Gefängnisalltag verfeindet waren, saßen bei Georgia an einem Tisch und entwickelten gemeinsam eine Zukunftsvision wie Mensch und Natur im Einzugsgebiet des Flusses Aoos in Harmonie miteinander leben können. Unter anderem wurde der albanische Strafgefangene zum Landwirt, der russische zum Energieproduzenten, der indische wurde zum Tourismusmanager und der Pakistani zum Fischer. Und dann hieß es „Lass es fließen“. 

„Wir haben viel zusammen gelacht“

Das von der NGO MedINA im Rahmen des BESTbelt-Projekts entwickelte, getestete und immer weiterentwickelte Rollenspiel mit dem Titel Let it flow öffnete den Männern in der Strafanstalt von Korfu Türen zu einer neuen Art des Austauschs. Sie lernten, sich in andere Perspektiven zu versetzen, das Gegenüber ausreden zu lassen, zuzuhören und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die allen Beteiligten gerecht werden – all das mit einem Gefühl von spielerischer Leichtigkeit und Freude. „Wir haben viel zusammen gelacht“, erinnert sich Georgia. Die Verwandlung war über die Unterrichtsstunden hinweg deutlich spürbar. Um miteinander ins Gespräch zu kommen, hatte Georgia anfangs einen Aufhänger mit Zündstoff gewählt: Auf Korfu wird das Trinkwasser infolge des Klimawandels knapp, eine Entwicklung, unter der auch die Gefängnisinsassen leiden. 

Die Teilnehmer stammten aus den unterschiedlichsten Ländern, darunter Albanien, Russland, Georgien, die Ukraine, Indien oder Pakistan und waren zwischen 20 und 60 Jahre alt. Es war nicht einfach ein Thema zu finden, das sie alle gleichermaßen abholt. „Eine Diskussion um das Thema Trinkwasser bot sich an, weil es auf menschlicher Ebene verbindet. Am Anfang war die Atmosphäre aufgeladen. Die Männer beschrieben das Problem aus unterschiedlichen Blickwinkeln und sahen gar nicht, dass sie eine gemeinsame Basis hatten, weil sie einander nicht zuhörten. Da wurde mir klar, dass es nicht reicht, sich inhaltlich mit dem Thema Wasserknappheit auseinanderzusetzen, sondern dass es auch darum gehen muss, wie ein fruchtbarer Austausch funktionieren kann, wie Konflikte ausgetragen und verschiedene Meinungen zusammengebracht werden können“, berichtet Georgia. Let it flow war für sie das perfekte Instrument dafür, denn das Rollenspiel widmet sich all diesen Aspekten.

Präsentation von der "Let it flow!" Aktion der Strafgefangenen.

Eine Brücke in die Welt da draußen: Georgia Kanellopoulou präsentierte die Gedanken der Gefangenen über die Wasserknappheit bei einem Festival zum Thema Kultur in der Region Epirus.

© Georgia Kanellopoulou

Neue Blickwinkel, frische Ideen

Historische Einbogenbrücke über den Fluss Voidomatis, ein Zufluss des Aoos.

Natur prägt Kultur: Historische Einbogenbrücke über den Fluss Voidomatis, ein Zufluss des Aoos.

© Stamos Abatis

Als die Projektleiterin von Let it flow, Miranda Vatikioti, von Georgias Initiative erfuhr, war das für sie ein Gänsehauterlebnis: „Dass Let it flow den Weg in ein Männergefängnis findet, war nicht geplant, spiegelt aber schön wider, wie unser Rollenspiel auf Reisen geht und sich auf andere Kontexte übertragen lässt.“ Let it flow bedient offensichtlich ein großes Bedürfnis unserer Zeit: Ganz nach dem Motto des Grünen Bandes Europa konzentriert es sich auf das, was verbindet anstatt auf das, was trennt. Georgia hat es für ihre Zwecke in die Erwachsenenwelt übertragen, doch konzipiert hat Miranda – die ihre akademische Laufbahn damals am Theater startete – das Umweltbildungsprogramm für Menschen im Teenageralter. Der Fokus liegt darauf, Schülerinnen und Schüler sowie deren Lehrkräfte zu befähigen, die Bedeutung des Aoos-Flusssystems und seine Bedrohungen zu verstehen und sich Lösungen zu überlegen, wie die Menschen dort glücklich im Einklang mit der Natur leben können. „Das klappt hervorragend, weiß Miranda Vatikioti: „Kinder und Jugendliche haben eine starke Vorstellungskraft und sie haben die eigentliche Essenz schnell begriffen: Indem wir den Fluss schützen, schützen wir auch die Menschen, die an ihm leben und das geht nur gemeinsam. Genau das ist die Kraft der erlebnisorientierten Bildung durch Theater. Du ermöglichst den Teilnehmenden eine direkte Erfahrung, die weit über die bloße Information hinausgeht, die es ermöglicht, in andere Rollen zu schlüpfen und die Perspektive zu wechseln. Kinder und Jugendliche lernen von Natur aus spielerisch. Wenn du sie dort abholst, fangen sie an, dir Fragen zu stellen und wollen immer mehr wissen.“ 

Die Kraft der erlebnisorientierten Bildung durch Theater geht weit über die bloße Informationsvermittlung hinaus. In andere Rollen zu schlüpfen bedeutet, wirklich die Perspektive zu wechseln.

Miranda Vatikioti spricht
Miranda Vatikioti, MedINA
Schüler erkunden bei einer Exkursion den Sarantaporos.

Bevor es mit dem Rollenspiel losging, erkundeten die Teenager bei einer Feldexkursion einen der wichtigsten Nebenflüsse des Aoos, den Sarantaporos.

© Dimitris Skiadaresis

„Wow, ich habe so viel gelernt“

Schülerinnen und Schüler bei der Diskussion.

Schülerinnen und Schüler testen „Let it flow“ und besprechen die Ausgestaltung ihrer Rolle.

© Dimitris Skiadaresis

Vor allem Wasserkraft- und Tourismusprojekte bedeuten einen enormen Druck für die Region. Es gab zwischen den Schülerinnen und Schülern zum Teil heftige Diskussionen, weil sich die Teenager in ihre Rollen als Wissenschaftlerin, Landwirt, Fischer, Energieproduzentin, Hotelier oder Tourismusmanagerin ernsthaft hineinversetzten. Auf dieser Basis gelang es ihnen im Rollenspiel zum Beispiel, eine Änderung der Hotelbaupläne herbeizuführen oder das Energieunternehmen dazu zu bringen, in einigen Punkten zurückzutreten. Miranda freute sich über Rückmeldungen wie: „Es war sehr interessant, weil wir zu öffentlichen Themen Stellung beziehen mussten, zu denen wir sonst wahrscheinlich nie eine Meinung gehabt hätten; wir haben uns in die Lage der lokalen Behörden und Unternehmen versetzt und unsere eigenen Interessen vertreten; wir hatten die Möglichkeit, mehr mit der Natur in Kontakt zu kommen; wow, ich habe so viel über den Ort gelernt, an dem ich geboren bin und lebe!“

Verblüffung im Rathaus

Die Karten für das Rollenspiel "Let it flow" sind auf einem Tisch ausgelegt.

Ob Fischer, Bauunternehmer oder Naturtourist: Die liebevoll gestalteten Karten enthalten Hinweise wie sich die einzelnen Rollen mit Leben füllen lassen.

© MedINA

Am Ende wählten die Schülerinnen und Schüler die von ihnen entwickelten Managementpläne für das Aoos-Flusssystem aus, die sie als besonders stark erachteten. Eine Delegation von Teenagern aus den weiterführenden Schulen von Konitsa präsentierte diese Pläne anschließend ganz real dem Rat der am Aoos gelegenen Gemeinde. Und der hörte tatsächlich zu. Der Präsident des Gemeinderats, Vassilios Spanos, war sichtlich beeindruckt und ermutigte die Schülerinnen und Schüler, sich weiterhin als aktive Bürger an den Entscheidungsprozessen zu Fragen der nachhaltigen Entwicklung ihres Ortes zu beteiligen. „Die Managementpläne der Jugendlichen sind Ausgangspunkte für eine ernsthafte Diskussion“, unterstreicht Miranda Vatikioti. „Ich denke, dass die Jugendlichen, die an diesem Programm teilgenommen haben, künftig viele Menschen mit ihrem Wissen und ihren Gesprächsthemen überraschen werden. Sie haben ihre Art zu sprechen verändert und können sich nun zu anspruchsvollen Themen äußern. Das macht sie stolz. Außerdem wurde ihnen erstmals bewusst, dass sie am Grünen Band Europa leben und damit Teil einer internationalen Initiative sind, an der sich viele Forschende und Organisationen beteiligen. Das hatten sie bis dato gar nicht gewusst.“

Neue Gesprächskultur im Gefängnis

Im Männergefängnis beobachtete Georgia Kannellopoulou ähnliches: „Die Gesprächsatmosphäre hat sich durch das Rollenspiel komplett verändert“, berichtet sie. „Am Ende sprachen wir erneut über das Thema Wasserknappheit, aber viel ruhiger. Es war auf einmal möglich, die Probleme nacheinander an die Tafel zu schreiben, um sie später der Gefängnisleitung mitteilen zu können.“ Besonders freute es Georgia, dass es ihr gelang Barrieren zwischen den Gefangenen aufzulösen und ihnen die Natur wieder näher zu bringen, auch ohne ihnen eine echte Feldexkursion an den Fluss anbieten zu können. „Die Bilder und Videos vom Aoos haben die Gefangenen emotional sehr berührt und sie beruhigt. Sie konnten so für eine gewisse Zeit über die Gefängnismauern hinaus reisen und Natur erleben.“ Als sie die albanischen Teilnehmer bat, anhand des von MedINA entwickelten „Aoos Ökomuseum-Führers“ über den albanischen Teil des Aoos, die Vjosa, zu berichten, blühten die Männer förmlich auf und es kam die grenzübergreifende Verbindung ins Spiel.

Es gelang den Männern, einander wahrzunehmen und ihre vom Gefängnis auferlegten Rollen zu überwinden, indem sie einen sanften und konstruktiven Umgang miteinander fanden.

Portrait Georgia Kanellopoulou
Georgia Kanellopoulou

„Let it flow“ geht auf Reisen

Die detaillierte Anleitung für Let it flow wurde an sämtliche Schulen in der Region Epirus verteilt und dem Bildungsministerium zur Aufnahme in regionale und nationale Lehrpläne vorgelegt. Weit über hundert Teenager haben das Rollenspiel bereits angewandt und über 60 Pädagogen sind für die Umsetzung von Let it flow geschult. Miranda und ihre Kollegen haben Let it flow in einem Ping Pong mit den Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften stetig weiterentwickelt. Außerdem wurde das Rollenspiel ins Albanische übersetzt und an die albanische EuroNatur-Partnerorganisation EcoAlbania übergeben, um seine Umsetzung in Schulen im Einzugsgebiet der Vjosa zu fördern. „Ohne den finanziellen Rückhalt durch BESTbelt wäre all das nicht möglich gewesen. Es macht mich glücklich, von Let it flow zu erzählen, denn ich verbinde so viele schöne Erinnerungen damit“, sagt Miranda Vatikioti. „Viele Kinder und Jugendliche sind nun dafür vorbereitet Wege zu finden, wie sie ihre Natur und Kultur bewahren können. Let it flow wird weiter auf Reisen gehen und lässt sich auf die verschiedensten Fragestellungen übertragen. Vielleicht sieht die Zukunft viel heller aus als die Wissenschaft es heute voraussagt.“

Katharina Grund

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